Nach dem Marathon in Paris im April brauchte ich ein kurzfristiges Laufziel, um über den Sommer das Training nicht zu vernachlässigen. Vor allem im Hinblick auf den 4. Lucerne Marathon im Herbst wollte ich die Form halten können. Ich stellte schnell fest, dass im Sommer nicht viele City-Marathons stattfinden. Aber die alpinen infolge Höhe und somit niedrigen Temperaturen boten sich an.
Mein 40. Geburtstag anfangs Juni und die einmalige Auszeichnung zur „Bäckerei-Confisierie des Jahres“ [[LINK setzen]] Mitte Juni mit der Reise nach Berlin zehrten an den Trainingseinheiten. Die Endzeit oder das Resultat sind eine reine Frage des Zeitaufwands ins Training. Diesmal lagen nur drei Trainings pro Woche drin und kein einziger 30ier. Mein persönliches Ziel war somit, auf dem Gipfel Piz Scalottas bei Kilometer 42 anzukommen. Die Strecke führte dieses Jahr einmalig auf den Nachbarberg vom bekannten Rothorn, da die Seilbahn restauriert werden musste.
Im Vorfeld freute ich mich riesig, gilt doch der Graubünden Marathon offiziell als härtester der Welt. So hatte ich natürlich auch meinen Respekt und wusste, dass es alles andere als ein Spaziergang wird.
Nachdem der ganze Juni bislang schlechtes Wetter hatte, kündigt sich der 26. Juni sozusagen als Sommerbeginn an. Bis 28° C soll es heute in Chur werden. Zumindest brauche ich mir keine Gedanken über die Windjacke und den Regenschutz zu machen.
Eine Stunde vor dem Start erreiche ich das herrliche und zentrumsnahe Startgelände in Chur auf der Quaderwiese.
Die Sonne scheint und der Himmel ist stahlblau. Es herrscht klassische Läuferstimmung, und ich geniesse die Atmosphäre. Die Startnummerausgabe ist perfekt organisiert, und auch die Gepäckaufgabe klappt schnell und reibungslos. Das Läuferumfeld macht mir einen sehr sportlichen resp. weniger „touristischen“ Eindruck als bei anderen Marathons und wirken gut vorbereitet.
Um 09.15 Uhr fällt der Startschuss in Chur auf 590 m ü. M. Erstaunlich, wie gemächlich gestartet wird. Locker und im soliden Tempo zugleich, welches sich aber steigert, als sich das Feld auseinanderzieht. Das Einteilen beginnt schon jetzt mit dem Bewusstsein, dass die Beine die nächsten gut fünf Stunden einer Dauerbelastung standhalten müssen und zwar bergauf. Wir rennen jetzt mitten durch die Churer Altstadt und ein paar Einwohner feuern am Strassenrand an. Auf den ersten drei Kilometern ist die Steigung zwar spürbar, aber angenehm und gut verkraftbar.
Kurz vor Pasugg bei km 4 weichen wir auf einen Naturweg und bekommen die erste Kostprobe eines steilen Streckenabschnitts. Jener dauert an bis km 6, und der ein oder andere Läufer schaltet schon mal einen Gang runter mit dem Laufschritt. Von km 6 bis 10 ist die Steigung zwar moderater, aber es geht konstant berauf bis Churwalden auf 1'229 m ü. M. Sozusagen zurück in der Zivilisaton werden wir dort angefeuert, und der Speaker nennt unsere Namen und Herkunft. Mir fällt dabei auf, dass es einige Ausländer unter uns hat.
Die ersten 12 Kilometer waren für mich eher ein Kampf, aber ich spüre jetzt, dass mein Körper warmgelaufen ist und den Rhythmus gefunden hat. Die Sonne brennt, und wir passieren die 2. erlösende Trinkstation. Mein Shirt ist bereits nass und der Schweiss läuft über die Haut und Sonnencrème. So viel trinken wie möglich, ist jetzt wichtig.
Nach Churwalden geht es jetzt steil weiter über Büel bis zur ersten Spitze auf 1’700 m ü. M. bei Foppa, km 17. Es ist nicht einmal die Hälfte geschafft, aber ich fühle mich schon ziemlich „ausgeschossen“. Diese Hitze macht zusätzlich zu schaffen. Zum Glück hat es ausreichend sehr gut organisierte Verpflegungsposten. Meist sind jene im „Nowhere“, und umso mehr sind sie geschätzt.
Zumindest geht es jetzt vier Kilometer runter und dann drei Kilometer geradeaus. Noch vor Parapan, auf einem offenen Feld (kein Mensch weit und breit) passieren wir die Halbmarathondistanz. Bis zur Ortschaft Parpan kann ich wieder ein bisschen auf die Tube drücken und ein paar Mitstreiter einholen. Die bereits einiges über 1'000 Höhenmeter liegen spürbar schwer in den Beinen. Zwischen Parpan und Valbella geht es durch den Wald über Stock und Stein.
Bis hierhin ist dieser Marathon landschaftlich einfach fantastisch. Abwechslungsreich, weg vom Verkehr, ruhig und Natur pur. Die Bilder prägen sich zwar ein, aber wegen der enormen Anstrengung habe ich Mühe, jene zu würdigen und zu geniessen.
Bei km 26 kommen wir an den Heidsee. Ich kann nur eins sagen: einfach paradiesisch! Ich kannte diese Gegend vorher nicht, aber mir wird sofort klar, dass ich nicht zum letzen Mal hier bin. Was für ein schöner See und diese Idylle. Es geht jetzt wieder geradeaus dem Seeufer entlang. Dies gibt mir den nötigen Schub auf die für mich magische 30 Kilometer-Grenze. Gleichzeitig habe ich ab und an ein paar Gedanken ans Aufgeben, denn die zweite grosse Steigung steht ja unmittelbar bevor.
Jetzt kommt ein Steckenabschnitt, wo die vorderen und hinteren Läufer einander entgegengesetzt begegnen. Dies motiviert. Rein körperlich kann man nichts daraus schliessen. Ob klein, gross, alt, jung, schwer, leicht, man erkennt von blossem Auge die Form eines Läufers kaum an. Dies fasziniert mich immer wieder.
Wir befinden uns jetzt am Fuss des Piz Scalottas, und weit oben der Gipfel resp. das Ziel scheint einfach nur hoch und so fern. Bei km 32 beginnt die zweite Steigung, und jene hält an bis ins Ziel. Es beginnt zwar moderat, aber wird immer extremer. Ich muss mich gedanklich ablenken und beginne zu rechnen, ob ich es unter fünf Stunden schaffen könnte. Eines ist mir aber klar, es wird extrem knapp. Mit den Augen fixiere ich immer wieder Punkte im Weghorizont und konzentriere mich auf das Teilstück. So geht es Stück für Stück. Die Landschaft ist traumhaft, aber man nimmt sie ganz einfach nicht mehr richtig wahr.
Auf der Alp Nova auf 2'000 m ü. M. und km 40 ist das Ziel jetzt schon zum greifen nah, aber meine Beine streiken. Jetzt ist es nur noch Kopfarbeit, denn eigentlich geht gar nichts mehr. Auf den letzten zwei Kilometern sind noch über 300 Höhenmeter zu bewältigen. Die Turnschuhe halten knapp im steinigen und steilen Gelände. Rechts tauchen die ersten Schneefelder auf. Die Zielzeit interessiert mich jetzt nicht mehr, denn ich frage mich nur noch, wie komme ich da noch hoch. Alle meine Körpersignale sagen mir „STOP“. Ich erinnere mich, wie ich die letzten fast fünf Stunden um jede Sekunde „kämpfte“ und „jagte“. Jetzt verstreichen sie wie in „Butter“ und ich klebe förmlich im Hang.
Nach vier Stunden, 57 Minuten und 23 Sekunden erklimme ich den Gipfel und passiere die Ziellinie auf 2'321 m ü. M. Was für ein Gefühl! Die Beine zittern, und ich fühle mich wie neu geboren. Diese Sekunden entschädigen alles. Dazu kommt noch das herrliche Panorama. Die Stimmung ist einmalig. Dies macht es aus.
Das Gepäck wird mir sofort übergeben, und ich ziehe mir etwas Trockenes und Warmes an. Die Luft ist kühl da oben.
Mit einem Sessellift geht es dann runter auf die Lenzerheide. Herrlich der Ausblick! Auf dem Sportgelände in Lenzerheide genehmige ich mir eine Dusche. Mit dem Postauto gehts zurück nach Chur. Die Fahrt ist lang und kurvig.
12 Stunden, nachdem ich Luzern verlassen habe, bin ich wieder zu Hause.