Eine Woche vor dem Jungfrau-Marathon hatte ich eine kleinere Trainingspause eingeschaltet und ein Party-Wochenende mit Freunden auf Ibiza verbracht. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich nur den Lucerne Marathon Ende Oktober geplant.
Meine Vorbereitungen waren „on time“. Zurück aus Ibiza, absolvierte ich am Montag darauf einen 20 km-Lauf, erstmals versuchsweise mit Vorderfuss. Der Muskelkater in den Wadenmuskeln kam schnell und war stark spürbar. Zu Hause angekommen las ich das spontane E-Mail meines treuen Marathon-Freundes Gerry Krijnen www.physio-luzern.ch. Er verwies darin auf das Gästebuch der Internetseite www.jungfrau-marathon.ch, wo verschiedene Läufer infolge Verletzungen ihre Startplätze anboten. Da die Startplätze begrenzt und jährlich ausgebucht sind, war dies eine spontane Möglichkeit, die schönste Marathon-Strecke der Welt zu „erklimmen“.
Ich ging davon aus, dass mein starker Muskelkater bis am Samstagmorgen ausgeheilt sein müsste und so meldete ich mich an. Nach einem letzten leichten Training am Dienstag begann ich gleich die Ernährung auf die Herausforderung am Samstag anzupassen (Basic Minerals, Magnesium, verschiedene Vitamine zur Stärkung des Immunsystems sowie Carbo Loader und Spaghettis, was in den Magen ging, am Tag davor). Auch musste der Schlafmangel der Partynächte in Ibiza noch kompensiert werden.
Grosse Freude, aber auch ein mulmiges Gefühl im Magen begleiteten mich in dieser ersten Septemberwoche. Laut meinem Trainingsplan war es zwei Monate zu früh für einen Marathon. Und dann noch gleich ein extremer Alpenmarathon mit 1’829 Metern Steigung und 305 Metern Gefälle. Zudem hatte ich sozusagen keine Bergtrainings absolviert, und ich war mir bewusst, dass die Waden wieder stark belastet würden. Mein Traum und zugleich Ziel war somit „einfach ankommen als Finisher unter dem Zeitlimit von 6:30 h.“ Danach wird die Strecke nämlich geschlossen. Da wir für diesen Extremmarathon ein „paar Minuten“ mehr brauchen würden, mussten wir uns Gedanken über die optimale Bekleidung machen. Mit einem durchnässten T-Shirt auf 2'200 m ü. M. bei 5 °C gemäss Wetterbericht herumzurennen, machte uns kurz nachdenklich.
Bei perfekten Wetterbedingungen, es hätte besser nicht sein können, standen wir um kurz vor 09.00 Uhr vor dem Hotel Viktoria Jungfrau auf der Startbahn. Wir waren ziemlich nervös, als wir durch die Lautsprecher vernahmen, dass der Jungfrau-Marathon Europas schwierigster Marathon sei.
Gleichzeitig vernahmen wir, dass der internationale Leichtathletikverband (IAAF) und die World Mountain Running Association (WMRA) den Jungfrau-Marathon 2007 zur Berglauf-Langdistanz-Weltmeisterschaften erkoren hatten. Wir waren somit Teilnehmer an einer WM! Wir schauten uns an, lachten und dachten: „Da müssen wir jetzt durch, es gibt kein Zurück“. Uns war natürlich auch bewusst, dass das „Läuferniveau“ dementsprechend höher war.
Nachdem die Startschuss-Pistole spektakulär durch einen Fallschirmspringer überbracht wurde, ertönte der Knall pünktlich um 09.00 Uhr. Mit Musik und Geschrei von Zuschauern durchliefen wir die Startlinie. Zunächst gab es eine 3-km-Schlaufe durch Interlaken. Dann ein Abstecher zum fast 300 m tiefen, grün-blauen Brienzersee. Die ersten 10 km waren flach, als wärs ein City-Marathon. Bei der uralten Holzbrücke von Wilderswil folgte der erste ruppige Anstieg. Hinauf gings, das Tal wurde enger, Felswände prägten jetzt die Landschaft. km 20: das Marathon-Dorf Lauterbrunnen, mit dem berühmten Wasserfall, dem Staubbach genau bei halber Distanz. Ich hielt mich exakt an die Flüssignahrung der Liquid Power Gels von Sponser analog des Wiener Marathons, ausser dass ich statt Wasser jene mit isotonischen Getränken mischte. So wurde es mir von Sponser empfohlen. Ab km 20 gab es auch bei fast jeder Wasserstelle warme Bouillon, was ich eine geniale Idee fand. Somit war der Salzgehalt im Körper auch gesichert. Rein zufällig traf ich nach der halben Strecke auf Gerry, der vor mir lief. Wir hatten uns wie immer, gleich nach dem Start aus den Augen verloren. Wir nahmen die kommenden 5 - 6 km gemeinsam in Angriff, tauschten uns aus über den Zustand, genossen die Bergwelt und schwärmten.
Es folgte bei Lauterbrunnen auf 800 m Höhe eine völlig flache 6-km-Schlaufe zum Trümmelbach. Bei km 26 begann der ganz grosse Aufstieg. Hinein in die Wand: 26 Serpentinen bis Wengen! Hier auf der Sonnenterrasse, hoch über dem Tal, erreichten wir den 30. Kilometer. Der Empfang in Wegen war einfach rührend, man fühlte sich bereits als Held. Das Dorfzentrum war mit hunderten von Turnschuhen als Arkade geschmückt und beim durchrennen verspürte ich das berühmte „Runner’s High“. Beim Ausgang Wegen vor dem Daueranstieg feuerten uns unsere lieben Frauen an und übergaben weitere Liquid Power Gels. 30 Kilometer hinter uns, 800 Höhenmeter unter uns - aber das grosse Ding begann erst: Noch lagen über 1’000 m Steigung vor uns…
Mettlenalp, Wengernalp, Baumgrenze und ein Panorama, das uns fast den letzten Atem nahm: saftige Alpweiden, schroffe Felsen, Gletscher, die höchsten Eiswände der Alpen. Über uns thronte die Jungfrau, zusammen mit dem Matterhorn und dem Mont Blanc, der berühmteste Gipfel Europas. Und dann der Höhepunkt: die berüchtigte, die viel besungene Moräne - und das nach 40 km. Die Luft wurde dünner, und der Schnee kam einem immer näher. Der letzte Kilometer führte nur noch abwärts. Abwärts, auf dass die Teilnehmenden in Ehren ankommen, am Ziel auf der Kleinen Scheidegg. Ich hob die Arme wie immer hoch, und meine Zeit war 4:44 h, Totalrang 943 von den ca. 4’300 Teilnehmenden. Ein Glücksgefühl pur es geschafft zu haben, und die Freudentränen blieben nicht aus.
Fantastisch die Kulisse der Bergriesen, grossartig die wechselnden Szenarien zwischen Start und Ziel. Eine Herausforderung, ein Challenge, die 1’829 Höhenmeter zwischen Interlaken und der Kleinen Scheidegg. Zu Recht sagt man, dass es keinen Marathon in Europa mit derartigen Dimensionen gibt. Eiger, Mönch und Jungfrau: das berühmteste Dreigestirn der Alpen.
Ein grosses Dankeschön und Kompliment dieses Anlasses möchte ich dem über 30-köpfigen, ehrenamtlich arbeitenden Organisationskomitee sowie den über 1’200 motivierten Helferinnen und Helfern widmen. Sogar in den steilsten Passagen fern ab von jeder Strasse hatte es Getränkeposten und Sanitätsbetreuung mit Massageliegen etc. Die vielen Musikgruppen, Kinder mit Kuhglocken und Zuschauer, die einem anfeuerten auf den ganzen 42 km machten den Lauf zu einem unvergesslichen Erlebnis.